Diese Woche von Pesciüm in zwei Tagen nach Fusio (TI)
In mancher Hinsicht ist die Route von Pesciüm nach Fusio der ideale Tessin-Zweitäger. Sie ist abwechslungsreich: einmal Höhenweg, einmal Passwanderung. Sie überfordert nicht, man braucht am ersten Tag viereinhalb Stunden und am zweiten eine Stunde weniger. Zudem muss man nirgendwo, wie so oft in dem mediterranen Gebirgskanton, gefährliche Stellen passieren. Und am Tremorgiosee gibt es am Ende der ersten Etappe eine Seilbahn – Talflucht möglich für Hüttenverächter wie mich.
Ich fuhr nach Airolo, wechselte auf das Büslein ins Bedrettotal, stieg bei der Haltestelle Funivia gleich wieder aus. Die riesige Seilbahnkabine hinauf nach Pesciüm war halb leer. Gebannt verfolgte ich, wie Airolo samt Autobahn und Staubecken unten zurückblieb.
Ravioli mit Forellenfüllung
Oben stellte ich eine allgemeine Hässlichkeit fest wie überall, wo skigefahren wird: schüttere Wiesen und Masten noch und noch. Ich zog los und war binnen kurzem in der wild wuchernden, dschungelhaft grünen Natur. Der Höhenweg zum Tremorgiosee heisst zu Anfang auch Sentiero del Mirtillo, Heidelbeerweg. Die Alpe di Ravina: leider noch einmal Skiliftmasten. Das Stück hernach bis Zemblasca dann wieder Moosboden, Waldboden, Wiesenboden, ich atmete auf und atmete durch. Linkerhand hatte ich an der anderen Leventinaflanke die Ritom-Standseilbahn.
Der Tremorgiosee war nicht mehr weit, stellte ich bei Zemblasca anhand der Karte fest. Doch oh weh! Ich musste fast 300 Meter absteigen nach Ri Secco. Und dann wieder aufsteigen nach Cassina und Pian Mott. Hernach eine krasse Steilheit, der Weg verengte sich zudem drastisch, ausgesetzt würde ich das aber knapp noch nicht nennen. Endlich der schönste Moment meines ersten Tages. Von einer Krete sah ich tief unten den südseeblauen Tremorgiosee.
Als ich vor der Capanna Tremorgio über dem Seeufer sass, vor mir eine Gazosa-Limonade, fand ich: Doch, in dieser Hütte würde ich es vermutlich aushalten. Freilich hatte ich unten in Rodi ein Zimmer im Dazio Grande gebucht, einem wuchtigen Zollgebäude aus dem Ancien Régime. Ich fuhr mit der Seilbahn nieder, bezog mein Zimmer, machte einen Spaziergang, ass im Hotel Baldi Ravioli mit Forellenfüllung.
Am nächsten Morgen fuhr ich wieder hinauf zum See. Mässig anstrengend der Pfad durch die Farnwedel hinauf zur Alpe Campolungo mit ihrem anarchisch mäandrierenden Bach. Ein Zacken am Horizont gleich links meines Zieles, des Campolungo-Passes auf 2318 Metern, war der Pizzo del Prévat. So sagte es ein Bergsteiger, der mir entgegenkam.
Ich bin in den Abruzzen
Die Weitsicht vom Pass auf immer neue Bergketten Richtung Westen war beeindruckend, ich kannte kaum einen der Gipfel. Die Strommasten am Pass ignorierte ich, ass bei der windschiefen Hütte mit den Kabelrollen meine neuste Wanderspeise, getrocknete Mangoschnitze. Danach der Abstieg via Alpe Pianascio nach Fusio an der jungen Maggia. Fusio war ein allerliebstes Hangnest, und ich dachte: Das ist nicht Schweiz, ich bin in den Abruzzen.
Problemlos hätte ich nun heimkehren können, es war erst früher Nachmittag. Doch ich hatte ein Zimmer in der Antica Osteria Dazio reserviert. Ein Doppelzimmer – das kam so: Als ich am Vortag angerufen hatte, hatte ich nach einem Einzelzimmer gefragt. Die Frau, die Schweizerdeutsch sprach, sagte: «Ich habe nur noch ein Einzelzimmer frei, eines mit einem sehr kurzen Bett. Wie gross sind Sie?»
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Route Tag eins: Pesciüm (Seilbahn-Bergstation). Auf dem Tremorgio-Höhenweg via Alpe di Ravina, Zemblasca, Pian Taiöi, Ri Secco, Cassin, Pian Mott, Brusada zum Tremorgiosee (Seilbahn-Bergstation, Grotto).
Wanderzeit Tag eins: 4 1/2 Stunden.
Höhendifferenz Tag eins: 720 Meter aufwärts, 620 Meter abwärts.
Wanderkarte Tag eins: 265 T Nufenenpass und 266 T Valle Leventina 1:50'000.
GPX-Datei Tag eins: Hier downloaden.
Route Tag zwei: Tremorgiosee - Alpe Campolungo - Campolungopass - Alpe Pianascio - Fusio im Lavizzaratal (Bus Richtung Bignasco, dort umsteigen, Bus nach Locarno).
Wanderzeit Tag zwei: 3 1/2 Stunden.
Höhendifferenz Tag zwei: 475 Meter aufwärts, 1045 Meter abwärts.
Wanderkarte Tag zwei: 266 T Valle Leventina 1:50'000.
GPX-Datei Tag zwei: Hier downloaden.
Anreise: Mit dem Zug nach Airolo. Mit dem Bus ins Bedrettotal in sechs Minuten zur Seilbahn, Haltestelle Funivia. Zu Fuss braucht man dafür 20 Minuten. In der Seilbahn hinauf nach Pesciüm.
Übernachten: Dank der Tremorgio-Seilbahn kann man Tag eins und zwei auch einzeln wandern; mit der Seilbahn vom See hinab nach Rodi, Bus nach Airolo. Wer den Zweitäger macht, übernachtet entweder im Tremorgio-Grotto (Capanna Tremorgio). Oder er nutzt besagte Seilbahn, fährt am Abend hinab nach Rodi und am Morgen wieder hinauf. Hotel Baldi oder Dazio Grande, historisches Zollgebäude, schön renoviert.
Charakter: Zweimal mittlere Anstrengung. Höhenweg über der oberen Leventina am ersten, Passwanderung am zweiten Tag. Etwas ruppig ist am ersten Tag die Passage zwischen Pian Mott und der Höhe über dem Tremorgiosee.
Höhepunkte: Die Fahrt nach Pesciüm hinauf. Die grüne Wildnis Richtung Alpe Ravina. Der kreisrunde Tremorgiosee von oben, die Einkehr im schönen Seegrotto. Am zweiten Tag der morgendliche Tremorgiosee. Die weite Ebene der Alpe Campolungo. Fusio, ein Hangnest im hintersten Lavizzaratal.
Kinder: Keine Probleme. Sie gehören auf beiden Etappen dennoch beaufsichtigt, Bergweg.
Hund: Keine Probleme.
Einkehr: Dreh- und Angelpunkt ist die Hütte am Tremorgiosee. Nette Leute, Tessiner Spezialitäten.
Wanderblog: Täglich ein Eintrag auf Thomas Widmers privatem Journal.